Leseprobe


Formen und Inhalte psychoonkologischer Versorgung im deutschen Gesundheitssystem: Angebote für pflegende Angehörige (Kap 13.3)


Die onkologische Versorgung in Deutschland wird stationär vorrangig von Akutkrankenhäusern sowie vermehrt von spezialisierten Organkrebszentren (Brustkrebs-, Lungen-, Zentren etc.) oder Onkologischen Zentren sowie ambulant bundesweit von entsprechenden Fachärzten, vor allem Gynäkologen, Gastroenterologen, Pulmologen und Urologen, sowie ca. 300 Onkologischen Schwerpunktpraxen (OSP) geleistet. Zur Verbesserung der Versorgungssituation speziell von Brustkrebspatientinnen wurden sog. Disease Management Programme (DMP Brustkrebs) entwickelt, um durch ein strukturiertes psychosoziales Beratungs- und Betreuungsangebot die Auswirkungen der Krebserkrankung für diese große Patientengruppe zu lindern.

Für die Zertifizierung von Organkrebszentren oder Onkologischen Zentren durch die Deutsche Krebshilfe und die Deutsche Krebsgesellschaft ist heute die Bereitstellung von psychoonkologischen Beratungs- und Betreuungsangeboten eine notwendige Voraussetzung. Die dort erbrachten Leistungen können aber im derzeitigen System der Pauschalabrechnung (DRG) nicht als spezifische Leistung finanziell abgerechnet werden (Weis, 2010). Für alle anderen Leistungserbringer (Akutkliniken, Schwerpunktpraxen) sind weder eine psychoonkologische Kompetenz noch die Einbeziehung von Angehörigen vorgeschrieben.

Dies sagt zwar noch nicht viel über eine möglicherweise doch vorhandene psychosoziale Kompetenz aus, der neueste „Qualitätsbericht der Onkologischen Schwerpunktpraxen“ (WINHD, 2009) erwähnt allerdings neben einer minutiösen Darstellung der Diagnosen und Therapiestrategien mit keiner Silbe mögliche psychische Belastungen der Patienten und den Umgang damit, vom Befinden der Angehörigen ganz zu schweigen.

Voraussetzung für die Bestimmung von Unterstützungsangeboten für (pflegende) Angehörige von onkologischen Patienten ist ihre Anerkennung und standardisierte Einbeziehung in die Behandlung der Krebspatienten. Dies ist beispielsweise in den USA durch den Report des vom amerikanischen Congress beauftragten „Committee on Psychosocial Services to Cancer Patients in a Community Setting“ unter dem Titel „Cancer Care for the Whole Patient: Meeting Psychosocial Health Needs“ (2008) ebenso geschehen wie in Großbritannien, wo bereits 2004 das „National Institute for Health and Clinical Excellence“ (NICE, 2004) im krebsspezifischen Kontext den Ausbau palliativer Einrichtungen unter ausdrücklicher Einbeziehung der Angehörigen empfohlen hat.

Entsprechendes existiert in Deutschland bis heute leider nicht. Immerhin wurde im „Nationalen Krebsplan“ (2009) der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der Versorgung von Tumorpatienten als Ziel 9 die „Angemessene und bedarfsgerechte psychoonkologische Versorgung durch Verbesserung der Erkennung psychosozialen Unterstützungsbedarfs und Therapie behandlungsbedürftiger psychischer Störungen bei Krebskranken und Angehörigen sowie Sicherstellung der notwendigen psychoonkologischen und psychosozialen Versorgung (Hervorhebung G.T.)“ festgestellt. Erfreulicherweise wird darüber hinaus unter Ziel 12 des „Nationalen Krebsplan“ „die kommunikativen Fähigkeiten aller in der onkologischen Versorgung tätigen Leistungserbringer zu einem adäquaten Umgang mit Krebskranken und ihren Angehörigen“ und ihre Überprüfung innerhalb der Qualitätssicherung gefordert.

Desiderat 3: Die gleichzeitige und gleichberechtige Einbeziehung von Patient und Angehörigen als „unit of care“ bei chronischen Erkrankungen und im Pflegeprozess ist dringend notwendig und auf der Grundlage von verbindlichen Behandlungsrichtlinien einzuführen.


Zusammenfassung

Dank verbesserter Diagnose und Behandlung ist die Krebserkrankung zunehmend zu einer chronischen Erkrankung geworden, deren Behandlung häufig über einen längeren Zeitraum im häuslichen Milieu stattfindet. Die meist älteren Patienten werden von Angehörigen gepflegt, die auf diese Aufgabe unzureichend vorbereitet sind. Dies trifft besonders auf die palliative Pflegephase zu. Die Vielfalt weltweit vorliegender Erfahrungsberichte und Forschungsergebnisse zu Belastungen und ihren Auswirkungen auf die pflegenden Angehörigen werden in dieser Arbeit zusammengetragen und ausführlich gewürdigt.

In einem Forschungsprojekt, an dem der Autor als Hauptuntersucher beteiligt war, wurden Patienten in palliativer Behandlung zusammen mit den pflegenden Angehörigen zu mehreren Zeitpunkten mit Interviews und Fragebögen zu den physischen und psychosozialen Auswirkungen der Pflege für die Angehörigen zu Hause und im Krankenhaus untersucht. Wesentliche Ergebnisse dieser Studie werden vorgestellt.

Auf dieser Grundlage werden die aktuell vorhandenen Unterstützungsangebote für Angehörige im Kontext der Pflegeversicherung und der psychoonkologischen Versorgung im deutschen Gesundheitssystem kritisch gesichtet. Pflegeunterstützung wird als gesellschaftliche Aufgabe definiert, für die mit spezifischen Kriterien die Umrisse für ein künftiges Unterstützungssystem entworfen werden.




Inhaltsverzeichnis

Tabellenverzeichnis9

Abbildungsverzeichnis10

Einleitung11

1Krebs: Eine Krankheit des höheren Lebensalters13

1.1Inzidenz und Prävalenz von Krebserkrankungen13

1.2Der ältere Krebspatient14

2Die letzte Krankheitsphase: Onkologische Palliativbehandlung16

2.1Entstehung und Entwicklung der Palliativmedizin16

2.2Organisationsformen der Palliativbehandlung20

3Die Angehörigen in der Palliativpflege23

3.1Übergang vom kurativen zum palliativen Setting26

3.2Prozessmodell der Pflegesituation29

3.2.1Das transaktionale Modell zur Bewältigung von Belastung (Coping)29

3.2.2Adaptation des allgemeinen Modells auf die Pflegesituation30

3.2.3Konzeptionelles Modell der Pflegebelastung30

4Aspekte der Belastungssituation (Stressoren)33

4.1Gesundheitliche Situation des Patienten33

4.1.1Körperliche Symptome des Patienten33

4.1.2Psychische und kognitive Symptome des Patienten36

4.1.3Exkurs: Zum Stellenwert psychischer Prozesse bei Krebserkrankungen40

4.2Psychotherapeutische Strategien am Lebensende47

4.3Die Pflegesituation von onkologischen Patienten50

4.3.1Pflegeaufgaben und Pflegefertigkeiten50

4.3.2Familiäre Pflege in unterschiedlichen Kulturen58

4.4Familiäre Probleme und Rollenkonflikte61

4.5Erwachsene Kinder in der Pflege ihrer Eltern65

5Stresserleben der pflegenden Angehörigen69

5.1Bewertung der Pflegesituation69

5.2Mediator: Positive Aspekte der Pflege70

6Stressreaktionen der pflegenden Angehörigen74

6.1Belastungsmodelle der Stressforschung74

6.2Verarbeitung der Belastungssituation81

6.2.1Bewältigung eines „kritischen Lebensereignisses“82

6.2.2Bewältigung und Abwehr85

6.2.3Differentielle Bewältigungsstrategien im Kontext onkologischer Erkrankungen86

7Stressfolgen für die pflegenden Angehörigen90

7.1Beeinträchtigungen körperlicher Gesundheit durch die Pflege90

7.2Beeinträchtigungen psychischer Gesundheit93

7.3Lebensqualität94

8Moderatorenvariablen im Prozessmodell der Pflegebelastung96

8.1Soziodemographie der Pflegenden96

8.1.1Alter, Geschlecht und Beziehung zum Patienten96

8.1.2Ausbildung und sozioökonomischer Status der Pflegenden97

8.2Personenvariablen98

8.2.1Aspekte der Pflegemotivation: Warum wird gepflegt?98

8.2.2Gesundheitszustand des Angehörigen vor der Pflege100

8.2.3Persönlichkeitsfaktoren101

8.2.4Qualität der Beziehung zum Patienten101

8.3Umweltvariablen107

8.3.1Unterstützung durch das soziale Umfeld107

8.3.2Unterstützung durch das Gesundheitssystem112

9Ökonomische Aspekte der Angehörigenpflege114

10Thema Tod117

10.1Gesellschaftlicher Umgang mit Sterben117

10.2Pflegeort und Sterbeort älterer onkologischer Patienten122

10.3Häusliche Pflege und Trauerreaktionen der Angehörigen125

11Stand und Perspektiven der Forschung zur Lage pflegender Angehöriger130

11.1Die „Dresdener Home-Care Palliativstudie“ (2001-2004)131

11.2Verlaufsuntersuchung t3 (2004-2005)152

11.3Forschungsperspektiven155

12Psychosoziale Verfahren zur Unterstützung von Angehörigen159

12.1Supportiv- edukative Verfahren160

12.2Interventionen zu Pflegefertigkeiten und Symptombehandlung163

12.3Bewältigungs- und problemlöseorientierte Ansätze165

12.4Häusliche palliative Versorgung und Entlastungsmodelle für pflegende Angehörige
(respite care)167

12.5Interventionen für Paare und familienorientierte Ansätze168

12.6Diskussion174

13Grundlagen eines Unterstützungssystems: Sechs Desiderata178

13.1Pflegeunterstützung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe178

13.2Die Angehörigenpflege in der Pflegeversicherung184

13.3Formen und Inhalte psychoonkologischer Versorgung im deutschen Gesundheitssystem: Angebote für pflegende Angehörige187

13.3.1Psychoonkologische Versorgung im stationären Versorgungssektor188

13.3.2Palliative häusliche Versorgung onkologischer Patienten194

13.3.3Ambulante Psychotherapie für hoch belastete Angehörige197

14Wegweiser für ein angemessenes Unterstützungssystem: Fazit und Ausblick199

Literaturverzeichnis204

Anhang245

Anhang 1: Gesprächsleitfaden mit Empfehlungen für die Interviewdurchführung

(Dresdener Palliativstudie)245

Anhang 2: Fragebogeninventar255


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